Canis lupus niger I - Der Fremde

Wanjas Blick wurde plötzlich von der Gestalt des Grafen Ghadamis eingefangen. Der stand in einiger Entfernung zwischen den Zelten und starrte in Richtung Osten. Wanja öffnete vorsichtig seine Sinne und spürte sofort das Wirken von Magie. Unangenehm berührt zog er sich zurück. Was auch immer der `Schwarze Graf´ da trieb, Wanja wollte nicht daran teilhaben. Es fühlte sich hässlich an.
Der junge Knappe war Wanjas Blick gefolgt und hatte den Grafen ebenfalls bemerkt.
“Ein unheimlicher Mann!“, sagte er schaudernd. “Er soll sehr weise sein und sein Rat dem König wertvoll, aber ich bin, ehrlich gesagt, froh, wenn ich ihn nicht zu sehen brauche.”
“Hm”, brummte Wanja nachdenklich, “er ist wohl auch nicht von hier, oder?”
“Oh nein! Er stammt weit aus dem Süden, von jenseits des Binnenmeeres. Man sagt, er beherrsche dort einen großen Teil der sandigen Wüste von Neff. Oft ist er monatelang fort und sieht vermutlich in seiner Heimat nach dem Rechten.”
“Aber wenn er in seiner Heimat so mächtig ist, warum kommt er immer wieder her, um Eurem König zu dienen?”
“Wer weiß?”, murmelte der Knappe. Er fuhr auf, plötzlich wieder unbeschwert. “Ihr sagtet, er sei auch nicht von hier …, doch Ihr seid es ebenfalls nicht. Das ist offensichtlich. Mögt Ihr mir … uns nicht von Eurer Heimat erzählen? Ich hörte, Ihr wäret Amudarier …?”
“Amudare, ja.” Wanja ließ sich gern von den Gedanken über Ghadamis ablenken. “Mein Heimatland ist hier praktisch unbekannt, nicht wahr?”
“Das stimmt, und meine Freunde und ich sind begierig, davon zu hören. Bitte erzählt uns ein wenig vom fernen und wilden Osten.” Eifrig winkte er seinen Freunden.
Sie eilten herbei und stellten sich höflich vor. Keiner war älter als zwanzig Jahre, die meisten fünfzehn oder sechzehn. Wanja brachte es nicht übers Herz, sie wegzuschicken. Sie waren so rührend jung und liebenswert.

“Ihr wollt etwas über das Land Amudaria erfahren?” Gutmütig sah er in die Runde. ”Dann müsst ihr jungen Leute euch erst einmal von einigen Vorstellungen befreien, die ihr habt. In meiner Heimat gibt es keine Lehen, Städte oder Burgen, wie hier. Das Land besteht überwiegend aus weiten Grassteppen. Wälder gibt es nur weit im Nordosten. Doch gibt es auch große Flüsse, riesige Ströme, so gewaltig, dass man deren gegenüberliegendes Ufer beim Frühjahrshochwasser nicht erkennen kann. Und groß und weit ist Amudaria, größer und weiter, als ihr es euch vermutlich vorstellen könnt. Ist jemand von euch schon einmal am Meer gewesen, hat es vielleicht sogar mit dem Schiff befahren?”
Einige nickten gebannt.
“So wie das Meer ist Amudaria, nur sind die Wogen nicht blau, sondern grün. Ihr könnt tagelang reiten, ehe Ihr einen Baum seht, wochenlang, ohne einem anderen Menschen zu begegnen.
Der Boden des Landes ist zum größten Teil mager, zu mager für Ackerbau, doch bringt er große Mengen Gras hervor. Deshalb betreiben die Amudaren Viehzucht: Pferde, Rinder, Ziegen und Schafe vor allem. Im Sommer, wenn das Gras wächst, folgen die Stämme ihren Viehherden monatelang durch die Ebenen, leben in Zeltdörfern, hüten die Herden und ernten Heu in Mengen für den Winter. Jeder Stamm oder Clan hat seine Gebiete, die er seit vielen Generationen durchstreift.  Im Winter wohnen die Stämme in festen Dörfern, leben von den Vorräten und tun alles, wozu im Sommer keine Zeit war: Bauen, Reparieren, Lernen, Pferde ausbilden, die Künste pflegen. Die Clansfürsten treffen sich, beraten und entscheiden offene Fragen und wählen ihren Obersten. Nachfolger werden ernannt und Ehen geschlossen.” Wanja lächelte die jungen Männer an. “Es ist ein gänzlich anderes Leben, als Ihr es führt.”

“Stimmt es, dass Amudaren mehrere Ehefrauen haben dürfen?”
Wanja grinste.
“Das ist für euch jungen Kerle immer die wichtigste Frage, was? Ja, manche Amudaren haben zwei oder mehr Ehefrauen, solche, die in der Lage sind, mehrere Familien zu ernähren, solche, die einen so großen Haushalt haben, dass die Fürstin allein ihn nicht verwalten kann. Das ist aber nur in sehr wenigen Familien so. Viel häufiger trifft es zu, dass Witwen oder Töchter von den Brüdern des Familienoberhauptes, oder auch seine Schwestern, in dessen Haus oder dessen Zelten leben. Dann trifft man dort natürlich eine große Anzahl Frauen an, die aber mit dem Oberhaupt der Familie nicht verheiratet sind.
Doch ihr könnt mir glauben, dass die Frauen Amudarias einen starken Willen haben. Sie stehen gleichberechtigt neben ihren Männern und lassen sich nicht besitzen oder nehmen. Es ist nicht einfach, einer von ihnen zu genügen, ganz zu schweigen von mehreren.”
“Die Frauen sind den Männern gleichgestellt? Aber wie soll ein Mann denn noch Zeit für das Waffenhandwerk haben, oder für den Dienst an seinem König, wenn seine Frau nicht gehorsam seinem Willen folgt und sich in jede Entscheidung einmischt?“
“Seht ihr, jetzt erkennt ihr das Problem selber. Nun, das Geheimnis des Erfolges ist, dass die Männer ihren Frauen nicht befehlen, sondern mit ihnen gemeinsam entscheiden - sofern die Frauen den Rat ihrer Männer wünschen. Jeder von beiden hat seine Aufgaben, und es steht jedem Paar frei, wie es diese Aufgaben untereinander aufteilt. Wir haben sogar Frauen, die es vorziehen, das Kriegshandwerk zu erlernen. Sie lassen ihre Kinder in der Familie ihrer Eltern aufziehen oder in der des Kindesvaters.” Verblüfftes Schweigen folgte dieser Erklärung.
Wanja lächelte. “Und um der nächsten Frage zuvor zu kommen: Das ist kein Scherz gewesen!”

Plötzlich erstarrte er und blickte nach oben. Ein Dutzend oder mehr dunkle Schatten durchrasten die tiefhängenden Wolken über ihnen. Sie waren groß, viel, viel größer, als jeder Vogel, den Wanja jemals gesehen hatte. Er sprang auf. Auch die jungen Leute waren in Aufregung geraten. Sie riefen wild durcheinander, doch Wanja war schon nicht mehr bei ihnen. So schnell er konnte, rannte er den fliegenden Schemen nach, denn sie flogen in die Richtung, in der die Zelte des Königs standen, und er war in Sorge um den jungen Herrscher.

Er war längst noch nicht an seinem Ziel angekommen, als lautes Geschrei und Kampflärm ertönten. Fluchend stieß er immer wieder Männer beiseite, die ihm im Weg standen. Endlich drang er zu dem Platz durch, an dessen Stirnseite des Königs Zelte standen. Ihm bot sich ein ungeheuerlicher Anblick. Zahlreiche fürchterliche Gestalten stießen sich eben wieder vom Boden ab und schwangen sich mit schweren Schlägen ihrer dünnhäutigen Flügel in die Luft.
Sie sahen kleiner aus als Menschen, aber nur deswegen, weil ihre Beine grotesk kurz waren. Dieser Mangel wurde aber durch die fledermausähnlichen Schwingen mehr als ausgeglichen, denn ausgebreitet mochte ihre Spannweite über sechs Meter betragen. Waren die Flügel ledrig, so waren Kopf, Rumpf und Gliedmaßen von einem dünnen Fell bedeckt, welches braune oder schwarze Farbe hatte. Die Köpfe der scheußlichen Wesen waren denen von Hunden oder Bären ähnlich, mit großen Ohren, flacher Stirn und einer langen Schnauze voller scharfer Zähne. Sie waren mit einem Riemen gegürtet und trugen lederne Taschen mit sich. Und sie hielten krumme Messer in ihren Klauenhänden, alle bis auf eines von ihnen.

Dieses eine hielt mit seinen dünnen, sehnigen Armen die junge Frau an sich gepresst, die Wanja am Vortage so gut gefallen hatte. Diese Kreatur befand sich mit ihrer angststarren Beute weiter oben am Himmel, als ihre Gefährten. Die anderen Kreaturen schienen der Rückzug dieser einen zu decken, hatten auch gegen die Ritter am Boden gekämpft. Mehrere der Ungeheuer, aber auch einige Ritter lagen verletzt oder tot auf der Erde. Sogar der König riss wütend einen Dolch aus einer blutenden Wunde an seinem linken Arm.

Wanja verschwendete keinen zweiten Blick auf die Menschen am Erdboden. Die Frau! Was wollten diese Bestien mit der Frau? Und warum hielt sie keiner auf? Er sah sich hastig um. Mehrere Soldaten standen mit Pfeil und Bogen zum Schuss bereit, doch offensichtlich fürchteten sie, die Dame zu treffen.
“Gib her!”, fuhr Wanja den ihm zunächst stehenden an und entriss ihm Bogen und Pfeil mit einer Heftigkeit, die dem Mann beinahe die Handgelenke brach.
“Nein!”, schrie Graf Ghadamis. “Ihr trefft die Dame Valeria!”
Ohne ihm zu antworten, spannte Wanja mit einer einzigen fließenden Bewegung den Bogen und ließ sofort den Pfeil von der Sehne schnellen. Noch bevor dieser Pfeil den Hals eines der Ungeheuer durchbohrte, zog Wanja dem Besitzer des Bogens einen neuen Pfeil aus dem Köcher. Auch dieser raste mit einem bösartigen Brummen in den Himmel und fand sein Ziel. Noch zwei weitere Ungeheuer konnte Wanja töten, dann waren sie zu hoch aufgestiegen und im Dunst der Wolken nur noch undeutlich zu sehen. Doch es war zu erkennen, dass sie nach Osten flogen, der Richtung, aus der sie gekommen waren.


   Wanja steckte Daumen und Zeigefinger in den Mund und pfiff schrill und sehr laut. In einiger Entfernung antwortete ein aufgeregtes Wiehern. Wanja riss dem Soldaten neben sich den Köcher vom Rücken und hängte ihn sich selber um. Der Soldat versuchte ihn zu hindern, aber der König rief:
”Nein! Lasst ihn gewähren!”
Hastig sah Wanja sich um. Er blickte in entsetzte, starre und ratlose Gesichter.
“Was ist denn?”, rief er ungeduldig. “Wir müssen ihnen nach!”
Einige Ritter lachten ungläubig.
“Wie denn das?”, fragte einer.
“Schnell!”, fuhr Wanja ihn an. “Sehr  schnell!”
Das schrille Wiehern erklang nun in der Nähe. Wanja pfiff noch einmal, um seinem Hengst den Weg zu weisen.
“Wie wollt Ihr denn mit diesen fliegenden Kreaturen Schritt halten, Ihr Narr?”
“Indem ich sie langsamer mache und mich selber außerordentlich beeile, Ihr Narr!” Wanja starrte die Anwesenden fassungslos an. “Wollt Ihr denn nicht einmal den Versuch wagen, die Dame zu retten? Unter all diesen namhaften und edlen Rittern … bei allen Göttern, nicht einer?”

Mit einem zornigen Schrei drängte sich Wanjas grauer Hengst zwischen den Menschen hindurch, warf sie um wie Kegel und jagte auf seinen Herrn zu. Der stieß einen scharfen Ruf aus, um das Tier zum Weiterlaufen aufzufordern, griff in dessen Mähne und war mit einem Schwung auf dessen nacktem Rücken.
Das Pferd schien sich zu strecken und noch schneller zu werden. Es übersprang einen Stapel Fässer und jagte in Richtung Osten, den Kreaturen  hinterher. Zelte, Menschen, Pferde, an denen sein Hengst ihn vorbeitrug, verschwammen zu Schemen. Lediglich was direkt vor ihm lag, konnte Wanja deutlich sehen. Nie hatte ein Pferd das Heerlager und das Lehen schneller durchquert. Der Hengst jagte über die Straße wie ein graues Fanal. Zu beiden Seiten warfen sich Menschen entsetzt zur Seite, mehrmals musste das Tier Karren überspringen.

Gottlob wurde der Himmel jetzt etwas klarer und Wanja konnte - winzig wie einen Vogelschwarm - wieder die Ungeheuer in der Ferne erblicken. Seine Vermutung und Hoffnung schien sich zu erfüllen, dass die Kreaturen nämlich gar nicht so lange so schnell fliegen konnten. Immerhin wurde einer von ihnen durch das Gewicht der entführten Dame belastet. Und schneller als er konnten auch die anderen nicht fliegen, wenn sie ihn nicht im Stich lassen wollten.
Während er im Dahinjagen versuchte, die Gruppe am Himmel im Auge zu behalten, überlegte er, was er über diese Wesen wusste. Sie stammten aus einer Region des schwarzen Kontinentes, die von feuchtheißen Regenwäldern bedeckt war, welche Unmengen von Früchten hervorbrachten. Denn diese Kreaturen (er erinnerte sich an den Namen, den die Menschen jenen fernen Landes ihnen gegeben hatten: Takklamatyr) ernährten sich ausschließlich von Früchten und Vogeleiern, ungeachtet ihres furchterregenden Aussehens. Auch galten sie zwar nicht als gewöhnliche Tiere, doch war ihr Verstand weit schwächer als der eines Menschen. Was wollten diese Wesen hier in diesem kühlen Land? Und was hatten sie mit der Dame vor? Sie selber konnten nicht das geringste Interesse an ihr haben. Hatte sie jemand beauftragt, zu tun, was sie getan hatten. Und wenn: Wer? Und warum? Ihm wurde schlecht, als er daran dachte, was manche Menschen in der Lage waren, entführten jungen Frauen anzutun. Aber selbst, wenn sie ihr nichts antaten, mussten Angst und Ungewissheit für die Dame Valeria entsetzlich sein. Er würde alles tun, was er konnte, um sie zu retten.

Allmählich schien er den Ungeheuern näher zu kommen. Zufrieden strich er dem Hengst über den Hals. Bis zum Einbruch der Dämmerung würden die Ungeheuer fliegen, nicht länger. Dann mussten sie herabkommen und ein Nachtlager suchen.
Er hoffte, ihnen bis zum Morgen so nahe zu kommen, dass er noch ein paar Pfeile abschießen konnte. Sie näherten sich einem Fluss, den die Ungeheuer natürlich mühelos überflogen. Ohne große Überraschung sah Wanja, dass sie anschließend nach Süden abschwenkten. Am Ufer angelangt, warf sich Wanjas Hengst, ohne zu zögern, in die Fluten. Dieser Fluss war keine dreißig Schritte breit. Das Tier durchschwamm ihn in kurzer Zeit, kletterte am jenseitigen Ufer aus dem Wasser und setzte sich ohne Aufforderung wieder in Galopp. Noch weitere zwei Stunden rannte es unermüdlich über die Landstraße. Doch am Ende musste Wanja es zügeln. Sie brauchten beide eine kurze Rast.

Eine Weile ließ er den Hengst noch gemächlich schreiten, dann hielt er ihn an einem kleinen Bach an. Er glitt vom Rücken seines Pferdes und ließ es saufen und fressen. Inzwischen sah er den Ungeheuern nach. Sie entfernten sich weiter und weiter. Das ließ sich nicht ändern. Aber er war sich sicher, dass sie die südliche Richtung beibehalten und dass sie in spätestens vier Stunden ihre Nachtruhe beginnen würden. Sein Pferd würde nach einer kurzen Ruhepause wieder flott weiterlaufen und den Abstand erneut verringern können. Er nutzte die Zeit, um den Bogen zu untersuchen, den er so hastig an sich genommen hatte. Es war eine sehr ordentliche Waffe, auf die er sich würde verlassen können. Der Köcher enthielt noch fünfzehn Pfeile. Wenn er keinen verschwendete, würden sie für die Ungeheuer ausreichen. Entschlossen hängte er sich Bogen und Köcher wieder um und rief den Hengst zu sich. Das Tier verließ bereitwillig seine Weide und schnaubte Wanja ins Ohr.
 
“Pfui Teufel”, sagte dieser belustigt, “jetzt hast du mich ganz eingesprüht. Komm, mein Freund! Das wird eine lange Jagd. Ich laufe ein Stück selber, dann kannst du noch etwas ausruhen. Er zauste dem Tier die Mähne und lief los. Das Pferd folgte ihm wie ein Hund, rupfte gelegentlich ein Grasbüschel ab und schien ganz zufrieden. Nach einer Stunde schwang sich Wanja wieder auf seinen Rücken und galoppierte weiter.

Die Takklamatyr waren in dieser waldreichen Gegend natürlich längst nicht mehr zu sehen, doch er glaubte zuversichtlich, dass sie immer noch genau vor ihm waren. Als er einen Hügel hinauf geritten war und plötzlich einen weiten Überblick über die Landschaft erhielt, wurde seine Zuversicht belohnt. Weit voraus, vor dem Nachmittagshimmel, sah er die Takklamatyr flattern wie übergroße Fledermäuse. Sie befanden sich so hoch droben, dass weniger aufmerksame Beobachter sie für einen Schwarm Krähen halten konnten. Wanja lächelte grimmig. Ja, jetzt wurden die Kreaturen berechenbarer. Wer auch immer ihr Tun bei der Entführung bestimmt hatte, lenkte sie nun nicht mehr unmittelbar.  

Er trieb sein Pferd wieder an, um seiner Jagdbeute zu ihrem Nachtlager zu folgen. Nach einem weiteren Ritt von etwa zwei Stunden sah er die Ungeheuer herabsinken. Sie mussten sehr müde sein. Sicher kostete es schon große Kraft, den eigenen Körper stundenlang durch die Luft zu tragen. Zusätzlich noch dauernd einen Menschen zu tragen, musste über ihr Vermögen gehen. Als die Ungeheuer sich in der Dämmerung auf einer Hügelkuppe niedergelassen hatten, ritt Wanja gemächlich weiter. Nun hatte er Zeit. Stunden später, mitten in der Nacht, näherte er sich leise dem Lagerplatz der Ungeheuer. In der Dunkelheit konnte er fast nichts sehen. Wollte er schießen, musste er damit rechnen, die Dame Valeria zu treffen. Die Ungeheuer waren nur als dunkle Klumpen in den Wipfeln toter Bäume auszumachen. Er würde auf das Morgengrauen warten müssen.
Geduldig kauerte er sich hinter einen Felsbrocken. Das Pferd entließ er zum Grasen und Schlafen, da er wusste, dass es sich nicht weit entfernen würde.
Er erlaubte es sich, immer wieder kurz einzunicken, denn auch er würde sich seine Kraft und Ausdauer über mehrere Tage erhalten müssen. Als im Osten der schwarze Himmel grau wurde, der Sonnenaufgang aber noch lange nicht zu erwarten war, rieb er sich das Gesicht mit Tau ab, um richtig wach zu werden. Jedes Takklamatyr, das er jetzt töten konnte, würde der Kraft der Gruppe fehlen. Sorgfältig strich er die Federn der Pfeile glatt und rieb die Bogensehne, bis sie trocken und warm war.

Drüben erwachten die Ungeheuer und regten mit Geraschel und Geflatter ihre ledigen Schwingen. Von Moment zu Moment konnte Wanja die einzelnen Kreaturen besser erkennen und unterscheiden. Lautlos nahm er einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf die Sehne. Da war auch die Dame Valeria! Bleich und übernächtigt sah sie aus, mit Schmutzflecken im Gesicht und zerrissenem Kleid. Doch trotz der Ungewissheit ihres Schicksals hielt sie den Kopf hoch und den Rücken gerade. Ihre Augen blickten eher wütend als ängstlich. Anerkennend lächelte Wanja. Das war eine außerordentlich mutige Frau! Doch er musste sich jetzt auf die Entführer konzentrieren.
Sie hatten durch ihre kurzen Beine einen unbeholfen watschelnden Gang. Am Boden wirkten sie nicht halb so furchterregend wie in der Luft. Aus den Beuteln, welche sie am Körper trugen, nahmen sie nun einen Vorrat an Früchten und begannen zu essen begannen. Auch der Dame Valeria boten sie knurrend davon an, doch die weigerte sich, zu essen.

Bald würden die Ungeheuer mit ihrer Gefangenen wieder aufbrechen. Wanja suchte sich die Kräftigsten der Gruppe aus, um sie als Erste zu töten. Er schoss auf ein großes braunes Geschöpf. Noch bevor es mit dem Pfeil in der Brust  zusammen brach, lag der nächste Pfeil bereits auf der Sehne. Panik brach unter den Takklamatyr aus, als auch das Zweite der ihrigen tödlich getroffen wurde. Wären sie klüger gewesen, hätten sie Wanja wahrscheinlich angegriffen. Doch sie kreischten wild durcheinander, ließen ihr Essen fallen und die ersten warfen sich bereits in die Luft. Noch ein Drittes traf Wanja und zielte auf das Vierte. Doch nun wirbelten die Wesen derart durcheinander, dass er kaum ein einzelnes Ungeheuer als Ziel erfassen konnte. Eines von ihnen riss die sich wütend widersetzende Dame mit sich in die Höhe. Ein weiteres Ungeheuer stürzte schreiend zurück auf den Erdboden. Das Nächste traf Wanja zwar noch, aber nur in ein Bein, so dass es weiterfliegen konnte.

Er knurrte ärgerlich, warf sich den Bogen über den Rücken und lief zu seinem Hengst hinunter. Vier immerhin hatte er erwischt, doch die verbleibenden sechs waren nun außerhalb seiner Schussweite. Und jetzt waren sie gewarnt. So leicht wie heute früh würde es in Zukunft nicht mehr sein, sie zu beschleichen. Er sprang auf den Hengst und jagte wieder den Ungeheuern nach.

Canis lupus niger II - Das Sommerturnier

    Wie er es gewohnt war, stand Wanja am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang auf. Leise, um Valeria nicht zu wecken, schlüpfte er, nur einfach gekleidet, aus der Kammer und lief zum Stall hinüber. Noch diesen ganzen Tag mussten sie hier totschlagen, bis das Turnier überhaupt begann. Darum hatte er beschlossen, wenigstens seinen Hengst zu bewegen und anschließend ein wenig zu üben.
    Klaus erwartete ihn bereits, was Wanja zwar nicht überraschte, aber dennoch mit einigen anerkennenden Worten belohnte. Er gab dem jungen Mann die Anweisung, das Übungsfeld so herzurichten, wie sie es zuhause gewohnt waren.   
     Dann schwang er sich auf den ungesattelten Hengst und ritt zur Burg und aus der Stadt hinaus. Erst jenseits der Stadt, abseits der Heerstraße, ließ das Gedränge ausreichend nach, so dass er das Pferd galoppieren lassen konnte.
    Endlich Luft! Wanja genoss das Trommeln der Hufe, die rollenden Muskeln unter seinen Schenkeln, die flatternde Mähne an seiner Brust, das gleichmäßige prustende Atmen des Tieres bei jedem Galoppsprung und dessen süßen Duft. Er berauschte sich regelrecht daran.
    Längst war die Stadt außer Sicht. In einem Wald lenkte Wanja sein Pferd auf einen Seitenweg und trieb es an. Erst jetzt schien es sich wirklich zu strecken und jagte nur so dahin. Eine kurze Weile konnte Wanja den rasenden Galopp genießen. Doch dann hörte er etwas und setzte sich zurück. Dies war eben nicht Amudaria mit seinen weiten, offenen Landschaften.

    Tief auf die Hinterhand gesetzt kam der Hengst rutschend zum Stehen und Wanja lauschte, aus welcher Richtung die Geräusche kamen, während er seinem Hengst den Hals kraulte.
“Mir scheint, wir sind hier nicht allein, mein Junge”, murmelte er. “Wollen doch mal sehen, was da los ist.”
    Im ruhigen Trab ritt Wanja weiter bis zu einer großen Lichtung. Die Menschen, welche sich dort befanden, drehten sich zu ihm um, als er ins Freie ritt. Nur ein junger, reich gekleideter Mann, der ein hübsches Mädchen am Handgelenk festhielt, hatte ihn noch nicht bemerkt, da er ihm den Rücken zugekehrt hatte.
    “Na, komm schon, Kleine! Stell dich nicht so an!”, keuchte er lüstern. “Solltest es als Ehre ansehen, von einem Edelmann genommen zu werden”
Die angstvollen dunklen Augen des Mädchens, es konnte kaum fünfzehn sein, waren voller Tränen.
    “Bitte nicht, Herr!”, weinte sie.
    Einige Bewaffnete drängten eine Gruppe Männer, Frauen und Kinder neben einem umgestürzten Planwagen zusammen. Ein Mann lag verwundet am Boden. Mit einem Blick war zu erkennen, was hier offensichtlich geschah.

    “Das Mädchen sagte `Nein!´, Baron Tarzel. Ich halte es für besser, wenn Ihr Euch Gedanken um Eure eigene Ehre macht und in die Stadt zurück kehrt.”
Wanjas Stimme klang ruhig und freundlich, aber unter dem Samt ihres Klanges war der Stahl bereits zu erahnen.
    Der Eberkopf in dem grünen Wappen, welches der junge Mann auf seiner Kleidung trug, wies auf die Verwandtschaft mit Wanjas Nachbarn, dem Grafen Tarzel von Lunenburg, hin. Und der hatte einen Sohn etwa im Alter des jungen Ritters, wie Wanja wusste.
    
    Der hübsche, blonde junge Ritter drehte sich zornig um.
“Wie kannst du es wagen, mich bei meinen Angelegenheiten zu stören, du Stück Dreck?
Ergreift diesen Mann!”, fuhr er an seine Wache gerichtet fort. “Ich bringe ihm Manieren bei, wenn ich mit dieser Zigeunerin hier fertig bin.”
    Zwei Männer stürmten sofort mit gezogenen Schwertern auf Wanja los. Doch dessen eigenes Schwert flog in einem tödlich blitzenden Bogen aus der Scheide auf seinem Rücken und drang erst dem einen Angreifer in die Schulter und dann dem anderen in einen Schenkel. Sofort danach lief Wanjas Pferd einige Schritte rückwärts, so dass sein Reiter aus sicherer Entfernung erkennen konnte, wie sich die Ereignisse weiter entwickelten.
    Tarzel und seine Männer erstarrten. Wie hatte sich dieser gewöhnlich aussehende Fremde nur so plötzlich in eine Bedrohung verwandeln können? Vermutlich war er doch nur ein Reitknecht oder ähnliches, der mit dem Pferd seines Herrn einen Auftrag ausfühen sollte. Der junge Baron stieß das Mädchen von sich und griff nach seinem Schwert.

    “Das ist eine wirklich schlechte Idee, Herr Tarzel.” Wanja schüttelte den Kopf. “Und Ihr habt heute doch schon eine Reihe falscher Entscheidungen getroffen. Bedenkt nur, was Graf Carnavon davon hielte, dass Ihr ein junges Mädchen auf der Straße überfallt und ihm Gewalt antut. Seid Ihr nicht mit der Tochter seiner Schwester verlobt? Ich weiß, dass er ein Mann mit sehr strengen Moralvorstellungen ist.”
    “Was? Wer bist du?”
    “Ah, Ihr besinnt Euch endlich auf Eure Erziehung? Mein Name ist Wanja Bajarin.” Er bemerkte, wie bleich Tarzel wurde und hörte auch das besorgte Getuschel von dessen Männern. “Wie ich sehe, ist er Euch nicht unbekannt. Was haltet Ihr davon, wenn wir eine Vereinbarung treffen? Ihr erspart es mir, noch mehr von Euren Dienern zu verletzen oder zu töten, und ich verspreche, niemandem zu erzählen, was ich hier gerade gesehen habe.” Wanja zog ein Tuch aus seinem Hemd und begann gelassen, sein Schwert vom Blut zu reinigen, ehe er die Klinge wieder in ihre Scheide stieß. “Nun, wie ist es?”, fragte er dann.

    Tarzels Wachen starrten ihren Herrn besorgt an. Der Ernst der Lage war ihnen sicherlich bewusst. Hinzu kam Wanjas schlechter Ruf als Zauberkundiger, der ihnen Angst machte. Doch auch der junge Baron schien jetzt endlich zur Besinnung zu kommen. Einen Grafen konnte man nicht einfach umbringen lassen. Stattdessen übte er sich in Überheblichkeit. Er sah sich um und verzog verächtlich den Mund.
    “Das hier? Keinen Menschen kümmert es, was mit solchem Pack geschieht … außer Euch natürlich. Eure Vorliebe für Zigeuner und ähnliches Gesindel ist ja weit über die Grenzen Wolfsburgs hinaus bekannt. Beschämend für einen Grafen! Zumindest für einen richtigen!”
    Wanja lächelte nur über diese beleidigenden Worte.
    “Na, schön. Gehen wir, Leute!” Baron Tarzel gab seinen Männern ein Zeichen und bestieg betont langsam sein von einem Diener herbei geführtes Pferd. Als er an Wanja vorbei ritt, sagte der leise und freundlich: “Ich fände es beschämend, mich so aufzuführen, wie Ihr es tut. Doch, fürchte ich, ist das die Art der Herren von Lunenburg.”
    “Du Schuft!”
Wie ein silbriger Blitz fuhr Tarzels Schwert aus der Scheide, um Wanja für seine Worte zu strafen. Doch der zog nicht einmal seine eigene Waffe, sondern fing Tarzels Schwerthand mit seinem Arm auf und entriss dem überrumpelten jungen Mann das Schwert. Dann richtete er die Spitze der Klinge auf dessen Brust.
    “Es scheint, als hättet Ihr wider Erwarten doch noch so etwas wie ein Ehrgefühl, das man verletzen kann. Tut Euch einen Gefallen: Reitet fort von hier! Bleibt am Leben. Und arbeitet sowohl an Eurer Kampfkunst, als auch an Eurem ritterlichen Benehmen.” Damit warf Wanja das Schwert einem der Diener zu. “Hier! Passt auf diesen Kindskopf künftig besser auf, wenn Euer Herr nicht irgendwann ohne Erben dastehen soll. Beim nächsten Mal werde ich ihn nicht einfach gehen lassen. Und nun verschwindet!”
    Ängstlich zogen sich die Diener zurück. Dem jungen Baron blieb nichts anderes übrig, als ihnen möglichst würdevoll zu folgen. Wachsam sah Wanja der Gruppe nach, bis er sicher war, dass sie wirklich fort waren.

Canis lupus niger III -Arbeitstitel "Der Krieg"

"Ich will mit den überlebenden Verbrechern sprechen. Kommt mit mir, Herr Kronstadt. Herr Eickeloh, Ihr kümmert Euch mit den restlichen Männern solange um die Toten!"
"Jawohl, Herr!" Der blonde Herbert von Eickeloh nickte entschlossen und wies die Männer der Wache an, die Leichname des Herolds und seiner Begleiter in deren Decken zu wickeln.
Wanja ging mit Kronstadt zu dem Baum hinüber, unter dem die verletzten Räuber kauerten. Sie blickten ihm unruhig entgegen. Offenbar wussten sie, wer er war und fürchteten seinen Ruf.
"Wer ist Euer Anführer?", fragte Wanja ohne Umschweife.
Die Männer schwiegen betreten.   
"Ich will wissen, woher ihr kommt, wer euch geschickt hat und warum ihr einen Herold König Karls überfallen habt. Und das werdet ihr mir sagen. Entweder erzählt mir euer Anführer, was er weiß, oder ich hole es aus jedem Einzelnen von euch heraus." Wanjas Stimme war nicht lauter geworden, hatte aber sehr an Schärfe zugenommen.
"Hans Halsab war unser Anführer", murrte ein schmutziger, stoppelbärtiger Strauchdieb, der sich seinen gebrochenen rechten Arm hielt. "Aber der liegt da hinten erschlagen im Kraut."
"Rechne nicht mit meinem Mitgefühl." Wanja musterte den Mann scharf und berichtigte seinen ersten Eindruck von ihm. Der Gefangene wirkte so schmutzig wie jemand, der schmutzig aussehen wollte und sich deshalb mit Schlamm einreibt. Die langen Haare waren zerzaust, aber man sah ihnen an, dass sie regelmäßig geschnitten wurden. Der Bart war höchstens vier Tage alt und das Schuhwerk zu teuer für einen Dieb. Letzteres konnte natürlich auch gestohlen sein, aber der Mann sah wie ein geschulter Krieger aus, der sich als Räuber verkleidet hatte. Auch seine Kumpane wirkten nicht wie echte Räuber, wenn auch weniger als dieser Mann hier.
"Wie ist Dein Name?", fragte Wanja. Er unterdrückte seinen Zorn, um zunächst Antworten zu erhalten.
"Wilm, ... Herr. Bitte, Herr, seid gnädig! Ich habe Weib und Kinder. Sie hungern. Nur deswegen bin ich mitgegangen. Ich bin kein schlechter Mensch."
"Und ich bin nicht der weichherzige Schwachkopf, für den du mich offenbar hältst. Ihr seid keine Straßenräuber und ihr wusstet ganz genau, wem ihr hier auflauert. Du brauchst es nicht zu leugnen. Was ich wissen will, ist, woher ihr gekommen seid, und warum."
"Aber, Herr, wir stammen alle hier aus der Gegend und versuchen nur den Hunger unserer Familien zu lindern. Der Herr vergebe uns!"
"Ihr seid nicht von hier. Ich kenne meine Leute, und in Wolfsburg muss auch niemand hungern. Außerdem sprecht ihr nicht wie jemand, der hier oder in Lunenburg aufgewachsen ist. Woher kommt ihr also? Wer schickt euch und warum?"
"Niemand schickt uns! Bitte, Herr, ...!"
Was auch immer der Mann noch sagen wollte, ging in einem lauten Schmerzensschrei unter. Wanja war drohend einen Schritt näher getreten und der Gefangene unwillkürlich vor ihm zurück gewichen. Dabei hatte letzterer das Gleichgewicht verloren und war auf seinen verletzten Arm gefallen. Unbarmherzig packte Wanja ihn dennoch am Kragen und zog ihn zurück in eine sitzende Haltung.
"Ich will keine Lügen hören, Wilm. Ich will wissen, warum ich König Karls Botschaft nicht bekomme sollte. Du weißt, wer ich bin und was über mich geredet wird. Willst du erfahren, ob diese Gerüchte der Wahrheit entsprechen?"
Die blutunterlaufenen Augen des Gefangenen weiteten sich etwas. Wanja lächelte wölfisch, als er feststellte, dass seine Worte wirkten. Dieser abergläubische Narr! Aber so konnte auch ein schlechter Ruf bisweilen von Nutzen sein.
"Nun, wie ist es?", fragte er mit etwas sanfterer Stimme.
Trotz seiner Angst presste der Gefangene seine Lippen zusammen und schwieg. Wanja schüttelte bedauernd den Kopf.
"Dann hast du dir das Folgende selber zuzuschreiben. Herr Kronstadt, fasst einmal mit an. Wir wollen den Kerl nach einem Ort schaffen, an dem wir ungestörter sind."

Verwundert, aber ohne Fragen zu stellen, gehorchte der junge Ritter. Als sie eine ausreichende Entfernung und dichtes Gestrüpp zwischen die anderen Männer und sich gebracht hatten, ließen sie ihren Gefangenen zu Boden fallen. Er schrie abermals, schaffte es aber, sich wieder aufzusetzen. Trotz seiner offensichtlichen Angst schleuderte er dem Grafen von Wolfsburg entgegen:
"Und wenn Ihr der Teufel selber wärt, würdet Ihr mich nicht dazu bringen, etwas anderes zu sagen als bisher!"
Beeindruckt hob Wanja die Augenbrauen. Der Mann war nicht feige! Beinahe bedauerte er, was er nun tun musste.
"Du würdest dein Seelenheil opfern, um denjenigen zu schützen, der dich mit einem Mord beauftragt hat? Erstaunlich! Glaubst du, derjenige weiß das zu würdigen? Dass dein Leben verwirkt ist, muss dir klar sein. Ob als Raubmörder oder als Verräter an unserem König, gehängt werdet ihr alle ohnehin. Und in jedem Fall erfahre ich, was ich wissen will, wenn nicht von dir, dann von deinen Kumpanen. Aber gut, ..." Wanja machte eine dramatische Pause. "... fangen wir an!"
Er sah sich nach zwei geeigneten Stöcken um. Als er sie gefunden hatte, legte er sie neben dem Gefangenen nieder. Dieser war inzwischen fast außer sich vor Angst. Was nur befähigte ein solches Subjekt zu so großer Treue?
"Herr Kronstadt", sagte Wanja, "Es mag sein, dass unser Freund jetzt ein wenig widerspenstig wird. Ich verlasse mich darauf, dass Ihr ihn dennoch sicher festhaltet."
"Ja, Herr!"
Dem jungen Mann war sein Unbehagen anzumerken, aber er widersprach seinem Lehrer nicht. Womit eigentlich hatte Wanja solches Vertrauen verdient?

Den Verbrecher am Boden zu halten und ihm einige Streifen von seinem Hemd abzuschneiden, war nicht schwer. Zwar verlieh die Verzweiflung dem Mann gewaltige Kräfte, doch Wanja  packte den Kerl an dessen gebrochenem Arm. Der Mann bäumte sich vor Schmerz auf und schrie abermals, konnte sich aber nicht mehr zur Wehr setzen. Rasch und entschlossen tat Wanja, was nötig war, ohne sich um das anhaltende Geschrei des Gefangenen zu kümmern. Schließlich war er fertig und stopfte dem jetzt nur mehr Wimmernden einen letzten Lumpen in den Mund.
Erst dann richtete er sich auf, um prüfend Kronstadts Blick zu suchen. In dessen Gesicht war das Unbehagen großer Erleichterung gewichen.
"Vergebt mir, Herr", sagte der junge Ritter verlegen. "Ich dachte wirklich, Ihr würdet ..."
"Schon gut. Diesen Eindruck wollte ich schließlich auch erwecken. Aber dies ist eine ernste Angelegenheit und wir sind damit noch nicht fertig. Glaubt Ihr, dass Ihr euren Gesichtsausdruck noch ein länger wenig beherrschen könnt?"
Jenseits des Gesträuches war es sehr still. Offenbar lauschte jedermann gebannt.
"Ja, Herr! Natürlich,"
"Gut, dann kommt.Unseren Freund lassen wir zunächst hier."  

Gemeinsam kehrten sie zu den anderen zurück. Drei Dutzend Augenpaare starrten ihnen entgegen, einige entsetzt, andere ungläubig und wieder andere ganz offensichtlich befriedigt. Wanja tat, als sähe er diese Blicke nicht. Er stellte sich vor die fünf restlichen, überlebenden Verbrecher, verschränkte seine Arme vor der Brust und betrachtete die Männer nachdenklich.
"Wer ist der Nächste?", fragte er sich scheinbar selber.
Die Gefangenen übertönten einander mit ihrem Betteln und Flehen. Einer sprang auf und versuchte, blindlings davonzulaufen. Aber er kam nur wenige Schritte weit, ehe ihm der Spieß eines Wolfsburger Wächters zwischen die Füße fuhr, ihn zum Stolpern brachte und stürzen ließ.
"Das ist der Richtige", bestimmte Wanja.  Dieser Mann hatte noch größere Angst als seine Genossen und würde alles tun, um sein Los zu verbessern. "Bring ihn hier herüber, Heinz!"
Obwohl der Mann sich in ihrem Griff wand, dabei jammerte und flehte, zerrten ihn der Angesprochene und ein weiterer Wächter gnadenlos zu ihrem Herrn, um den Gefangenen dort zu Boden zu stoßen. Wanja sah das verängstigte Häuflein Mensch verächtlich an.
"Dein Kumpan war mutiger als du, auch wenn es ihm nichts genutzt hat. Wenn du schon mit ihm gemeinsam auf Verbrechen ausziehst, dann sei auch bereit, sein Schicksal zu teilen. Schließlich werdet ihr einander in der Hölle wieder begegnen. Ich nehme nicht an, dass du klüger bist, als er, und reden wirst, oder? Also lass es uns hinter uns bringen."
Der Gefangene riss die Augen auf, als er die Andeutung eines Auswegs erkannte.
"Doch, Herr", schrie er mit sich überschlagender Stimme. "Doch, ich sage alles, was ich weiß. Oh, Gott, es ist nicht viel, aber ich sage alles!"
"Hm …" Scheinbar nachdenklich ließ Wanja den Mann noch eine kleine Weile in seiner Angst leiden, als wöge er den Wert des angebotenen Geständnisses gegen die entgangene Kurzweil ab.
"Na gut", brummte er dann. "Lass hören!"
"Herr, der Wilm hat Euch angelogen! Er gab uns Geld, damit wir ihm helfen, diese Reisegruppe zu überfallen. Wir sind alle ehrliche Söldner aus verschiedenen Ländern des Mittländischen Reiches, aber er und dieser tote Hans da drüben, die kamen aus Sastowo. Dass, ... dass der Überfall einem könglichen Herold galt, wusste keiner von uns vorher. Bitte, Herr, sonst hätte ich dabei niemals mitgemacht."
"Mord ist Mord!", fuhr ihn Wanja an. Er hatte genug gehört. "Der Verrat an deinem Land und deinem König wäre gar nicht nötig, um dich an den Galgen zu bringen. Aber mit diesem Geständnis hast du dir immerhin die weitere Befragung erspart."
Er sah sich nach seinen Männern um. "Herr Kronstadt, Ihr und Herr Schmalhorst holt diesen Wilm hierher zurück. Wir setzen die Gefangenen auf ihre Pferde und reiten mit ihnen nach Lunenburg. Ihr anderen bringt die Toten nach Wolfsburg. Berichtet der Herrin, was geschehen ist und dass ich vermutlich bis morgen bei Graf Tarzel sein werde. Die Verbrechen geschahen auf seinem Grund und unterliegen seiner Gerichtsbarkeit. Er muss erfahren, was sich hier ereignet hat."

Es gab ein wenig Gedränge und Durcheinander, als die Wolfsburger sich beeilten, den Befehlen ihres Herrn nachzukommen.
"... Nur den Arm geschient.", hörte Wanja, als Kronstadt seinen Kameraden erklärte, was geschehen war, und sah aus dem Augenwinkel dessen breites Grinsen. Nun, jetzt war es gleich, ob jemand erfuhr, wie er den Verbrecher zum Schreien gebracht hatte. Es hatte seinen Zweck erfüllt.
Schließlich saßen die Gefangenen auf ihren eigenen Pferden, welche von Wanjas Männern am Führstrick mitgenommen wurden. Der Ritt nach Graf Tarzels Familiensitz dauerte etliche Stunden, da sie wegen der Beutepferde nicht in der üblichen Geschwindigkeit vorankamen. Während der ganzen Zeit sprach Wanja kein Wort. Finster grübelte er über die Bedeutung des Gehörten nach. Wenn der König tatsächlich zu den Waffen gerufen hatte, dann würde er Valeria alleine lassen müssen, ausgerechnet jetzt.

Canis lupus niger IV – Arbeitstitel „Auf den Ebenen“

Am Morgen hatte Wanja für seine Waffenübungen keine Zeit. Seine Brüder und er zerlegten in Windeseile ihre Betten und das Zelt und luden alles auf den bereit gestellten Ochsenkarren, ehe der zum nächsten Zelt weiter rumpelte. Dann liefen sie zum Stallzelt und sattelten alle Pferde, die sie brauchen würden. Wanja erhielt die Erlaubnis, seinen schwarzen Hengst zu reiten und musste sich dafür verspotten lassen, dass er diesen so überschwänglich begrüßte und liebkoste. Sie verluden auch dieses Zelt mit allen Werkzeug- und Gerätetruhen auf einen Karren. Dann ritten sie mit Dutzenden anderer junger Männer zu den Herden hinaus, die Treiblanzen über die Schultern gelegt.
Als sie sich den Herden so weit genähert hatten, dass die gewaltige dunkle Masse auf dem Grasland sich in einzelne Tiere unterscheiden ließ, wurde Wanja von deren Anblick schier überwältigt. Tausende von Rindern, Kühen, Kälbern und Stieren, von Pferden und Schafen waren von ihren Hirten für den Zug hier zusammen getrieben worden und drängten sich nun ungeduldig vor Hunger und Raumnot aneinander.
"Was staunst du denn unser Vieh an?" Ivans spöttische Stimme weckte ihn aus seiner Versunkenheit. "So lange ist das nun auch noch nicht her, dass du es zuletzt gesehen hast!"
Doch, das war es! Fünfzehn Jahre! Aber Wanja antwortete seinem Bruder gar nicht. Er genoss das sich ihm darbietende Bild. Die weite Ebene war schwarz vom Vieh!

Aber es gab Arbeit, ermahnte sich Wanja selber. Alexander hatte die Treibergruppen für die einzelnen Herden bereits eingeteilt und ihnen jeweils einen Anführer zugewiesen. Und so folgte Wanja mit fünfzig anderen Reitern seinem älteren Vetter Brisko zu den jungen ein- bis dreijährigen Stieren. Diese Tiere waren die am gefährlichsten und schwierigsten zu treibenden von allen. Schon unter normalen Umständen kochte das Blut der wilden, starken Tiere unter dem Einfluss ihrer Männlichkeit leicht über. Deshalb ließ man die größeren und gelasseneren Ochsen zwischen ihnen weiden, damit die sie zur Ruhe bringen konnten. Doch wurden die Ochsen heute zum Ziehender Wagen gebraucht, und auf so engem Raum zusammengedrängt und von der Aufregung des Viehtriebs verwirrt, waren die Stiere höchst erregt. Immer wieder gingen zwei von ihnen aufeinander los und mussten von den Hirten auseinander gebracht werden. Nicht selten wandten sich die Tiere dann gegen die menschlichen Störenfriede.
Mit allen Anzeichen der Erschöpfung in den Gesichtern sahen ihnen deshalb die Hirten der Nachtschicht entgegen.
"Kommt ihr auch endlich!", rief einer von ihnen erleichtert. "Die Gruppe da vorne macht schon den ganzen Morgen Schwierigkeiten. Ihr müsst sie im Auge behalten."
"Die grau Gefleckten da, ja?" Der Anführer von Wanjas Gruppe sah in die angegebene Richtung. "Immer wieder die Söhne von diesem grauen Mistvieh. Ich muss mit dem Fürsten reden, ob wir die nicht besser aus der Zucht heraus nehmen sollten. Na schön!" Brisko war einer der erfahrensten Männer des Clans. Nicht umsonst war er seit Jahren für das Wohl aller Rinderherden verantwortlich. Und nicht umsonst kümmerte er sich auf dem Zug selber um die Herde der streitlustigen Stiere. Er teilte seine Reiter in drei Gruppen auf, die die Herde von hinten und an den beiden Flanken einrahmen und treiben sollten. Wanja musste mit einigen anderen hinter der Herde reiten, eine undankbare Aufgabe, wegen des vielen Staubs, den sie würden schlucken müssen. Doch man würde sich unterwegs abwechseln.

Langsam ritten sie auf die Herde zu, umkreisten sie, begannen behutsam, die Tiere in Bewegung zu bringen, erst wie einen Strudel, in einem großen Kreis herum. Und als sie sich an das Vorwärtsstapfen gewöhnt hatten, lenkten die Reiter der rechten Flanke die Tiere nach Osten um, die ungebärdigen grau Gefleckten an der Spitze des Zuges. Die Kunst war dabei, die Tiere nicht aufzuregen. Sie durften das, was geschah, nicht in Frage stellen, sondern mussten es für selbstverständlich nehmen. Hinter den jungen Stieren würden die Schafe folgen, dann die Mutterkuh-Herden mit den jungen Kälbern, den Jungrindern des letzten Jahres und den Deckbullen, dann die Hengste und die Stuten mit ihren Fohlen. Ganz zum Schluss, mit einigem Abstand, damit der Staub sich wieder setzen konnte, würden die schweren Wagen mit den Zelten und allem anderen folgen. Und sie würden auf den uralten Wanderstraßen des Bajarenlandes, welche von den vielen tausend Hufen und Klauen in den Boden getreten  wurden, so glatt und leicht dahin rollen, wie auf einer der gepflasterten Straßen des alten Stivale.  Dieser ganze Zug würde mehrere Meilen lang sein, und an seinen Flanken würden zum Schutz die Krieger des Clans reiten, welche nicht mit dem Treiben der Herden beschäftigt waren. Kinder würden mit Botschaften oder Trinkwasser für die Männer am Zug auf und ab galoppieren und sich furchtbar wichtig fühlen.

Doch um all das würden sich andere kümmern. Wanjas Aufgabe war es heute, beim Hüten der jungen Stiere zu helfen, und das beschäftigte ihn ganz und gar. Besonders in den ersten Stunden mussten die dickköpfigen Tiere immer wieder davon überzeugt werden, dass sie nicht zu den verlockenden Grünflächen davon wandern sollten, an denen sie vorbei kamen. Und auch die immer noch vorkommenden Raufereien mussten unterbunden werden. Dazu waren viele schnelle Ritte erforderlich, die Ross und Reiter sehr ermüdeten. Erst als die Tiere sich endlich damit abgefunden hatten, dass ihr Schicksal an diesem Tage einen langen Marsch für sie vorgesehen hatte, bekamen die Treiber Zeit, die Lanzen an ihre Schultern zu lehnen, mit einem Schluck Wasser ihre Kehle zu spülen, und sich Staub und Schweiß aus dem Gesicht zu wischen. Nicht, dass das lange geholfen hätte, ...

Am späten Nachmittag erreichte Wanjas Gruppe das fruchtbare Tal eines Flusses, in dem die Tiere während der nächsten Wochen weiden sollten. Und nun bewies die bewährte Marschordnung wieder einmal ihren Wert, denn die durstigen und hungrigen Tiere wurden immer schneller, als sie Wasser und süßes Gras  witterten. Schließlich stürmten sie blindlings auf den Fluss zu und hätten alles überrannt, was ihnen im Weg war. Dabei ließen sie die langsameren Schafe weit hinter sich, die wiederum die darauf folgenden Tiere aufhalten würden, bis die Jungstiere sich satt getrunken hatten, und zur Weide weiter zogen. Wenn sie in dieser Stimmung waren, konnte man die Stiere nur noch laufen lassen und hoffen, dass sie einander in dem Gedränge nicht verletzten. Wanja galoppierte mit der Lanze über der Schulter neben der Herde her und beobachtete sie wachsam, als Brisko sich näherte und über den Lärm der dahin donnernden Herde hinweg schrie:
"Wir müssen sie etwas mehr nach Norden abdrängen, sonst geraten wir an die Steilufer. Fang sofort an, wenn von drüben Antwort kommt! Hast Du verstanden?"
"Hab ich!", schrie Wanja zurück. Gerade noch konnte er die Frage hinunter schlucken, ob die anderen Treiber der rechten Flanke ebenfalls schon Bescheid wüssten. Natürlich war das der Fall. Der über vierzigjährige Hauptverantwortliche für die Rinderherden der Bajaren würde keine Ratschläge  brauchen. Brisko nickte zufrieden, nahm das lange Horn von seinem Rücken und blies eine wohl bekannte Tonfolge. Nur wenige Augenblicke später ertönte klagend die Antwort von der linken Flanke her. Wanja richtete die Lanze schräg über den Hals seines Pferdes nach links. Genauso wie Brisko drang er auf die außen rennenden Stiere ein, stieß immer wieder einem mit der Lanze in die Rippen und drängte die Tiere so auf ihre Nachbarn zu. Die versuchten auszuweichen und übten auf diese Weise ihrerseits Druck auf ihre Nachbarn aus. Die anderen zwanzig Reiter der rechten Flanke taten das Gleiche, so dass die große Masse rennender Tiere langsam, anfangs fast unmerklich, die Richtung änderte. Wie angestrebt verfehlten die Stiere dadurch den Flussabschnitt mit der steilen Böschung und ergossen sich am flachen, sandigen Ufer entlang flussauf und flussab. Gierig begannen sie zu trinken.

Nun hatten die Treiber ein wenig Zeit, sich ebenfalls zu erholen. Sie versammelten sich flussaufwärts, ließen ihre Pferde trinken, lehnten ihre auf den Sattel gestützten Lanzen gegen ihre Schultern und sahen ihren Schutzbefohlenen zu. Halblaut und heiser vom Staub begannen sie miteinander zu sprechen. Lediglich die von Brisko dazu abgestellten zehn Reiter hielten weiter Wache, und Wanja ebenfalls.
Er hielt seine Lanze weiterhin unter dem Arm und beobachtete die grau gefleckten Stiere scharf. Es musste nicht heute geschehen. Aber in seinem siebzehnten, in Sergejs neunzehnten Jahr, im Frühsommer hatte ...

Plötzlich ging alle sehr schnell! Einer der dreijährigen Stiere begann mit einem seiner Brüder zu raufen. Der ließ sich das nicht gefallen, und so prallten die Tiere zusammen, hakten ihre langen Hörner ineinander, welche den Amudaren in diesem baumlosen Land ebenso wertvoll waren, wie Fleisch und Häute, und stemmten sich gegeneinander. Mit ungeheurer Kraft und Wildheit schoben die Tiere einander hin und her. Sie brüllten und tobten, und die gewaltigen Muskelpakete an ihren Nacken, Schultern, Rücken und Keulen wogten unter dem Fell.
Wie es die Aufgabe der Treiber und Hirten war, wenn ernstliche Verletzungen drohten, begannen Dimitri und Sergej die beiden Tiere auseinander zu bringen. Jeder von ihnen stieß einen der wilden Stiere mit der Treiblanze von den Füßen. Wenn man den richtigen Punkt an der Keule kannte und mit dem richtigen Schwung und aus dem richtigen Winkel traf, war das gar nicht so schwierig. Doch wenn die gestürzten Stiere wieder auf die Beine kamen, waren sie oft sehr zornig auf denjenigen, der ihren männlichen Stolz verletzt hatte. Und tatsächlich ging einer der Stiere wutentbrannt auf Sergej los. Der hatte auf seinem gut ausgebildeten Pferd keine Schwierigkeiten, dem Angriff auszuweichen. Aber dabei war er einem anderen Tier näher gekommen, als dieses dulden wollte. Sergej, ganz auf seinen ursprünglichen Gegner konzentriert, bemerkte nicht, dass nun auch von hinten Gefahr drohte. Der zornige Stier griff ohne Warnung an.
"Sergej!", schrie Brisko entsetzt. Aber Wanja, der darauf gefasst gewesen war, stieß den Angreifer nieder, ehe dieser seine Hörner in den Leib von Sergejs Pferd versenken konnte. Der Stier stürzte  zu Boden und Sergej hatte Zeit, sein Pferd und sich in eine sichere Entfernung zu retten. Wanja behielt den Stier wachsam im Auge, aber der schien genug zu haben. Leicht humpelnd zog er sich zwischen seine Artgenossen zurück. Erleichtert wandte sich Wanja deshalb seinem Bruder zu.

"Alles in Ordnung?", fragte er beiläufig. Sergej nickte, immer noch kreidebleich im Gesicht.
"Dank dir, Mann! Wenn du nicht gewesen wärst, hätte dieses Scheißvieh aus Taro und mir Hackfleisch gemacht."
Ja, beinahe wäre es dazu gekommen. Sergej hatte damals nicht nur sein Pferd verloren, sondern auch ein Auge, und hatte die schweren Verletzungen nur knapp überlebt. Und er hatte nie wieder reiten können. Wanja lächelte verlegen.
"War nur Glück", murmelte er. "Ich hatte die Tiere zufällig im Blick. Mach mal nicht so einen Wind deswegen."

Flammen über Drachstaad – ein Isrogant-Roman

Am fünften Tag ihrer Reise erreichten sie den Posten des Heerlagers, und während Hark Leffert, der Anführer seiner Leibwache, die Formalitäten mit dem Wachhabenden erledigte, sah sich Helme um. Am Lager fand er grundsätzlich nichts auszusetzen. Alles war sauber und aufgeräumt. Die Männer wirkten nüchtern und diszipliniert. Auch die anwesenden Frauen waren anständig gekleidet und mit ganz gewöhnlichen Arbeiten beschäftigt. In geringer Entfernung sah man verschiedene Gruppen Kampfformationen üben. Und trotzdem hatte Helme ein ungutes Gefühl, wenn er all das betrachtete. Diese Männer und Frauen hier sollten zuhause auf den Feldern und in den Häusern arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Wer sollte sie alle ernähren, wenn der Winter kam? Nicht nur sie selber würden dann hungern, sondern auch jene, denen ihre Arbeitskraft schon jetzt  fehlte. Und besonders wohlgenährt sahen die Soldaten und ihr Tross nicht einmal jetzt aus.
Der Wachoffizier salutierte, und Helme dankte ihm mit einem Nicken, ehe er mit seinen Leuten in das Lager hinein ritt. Er mochte dieses militärische Gehabe überhaupt nicht. Zu den Zelten des Königs ginge es ein Stück geradeaus und dann an der Wegkreuzung nach links, hatten die Wachen erklärt. Diesem Hinweis folgten die Draeponer, doch schon nach wenigen Minuten kam ihnen ein junger, blonder Krieger entgegen gelaufen und winkte begeistert.
»Helme! Ich hörte gerade, dass du angekommen bist. Mann, ist das schön, dich zu sehen! Hast du es dir doch noch anders überlegt?« Er begrüßte die anderen Draeponer ebenso fröhlich. So wie Helme, war auch er mit ihnen allen befreundet.
»Hagen.« Graf Helme musterte seinen Bruder kritisch. Gut sah er aus. Sauber und gepflegt, aber nicht herausgeputzt. Gesund, gut ernährt und trainiert. Keine Anzeichen von Laster. Das Schwert an seiner Seite sah häufig benutzt aus, war sauber und griffbereit. Er hielt sein Pferd an und streckte dem Jüngeren seine rechte Hand entgegen, der sie froh ergriff und drückte. »Du siehst aus, als ginge es dir gut.«
»Könnte nicht besser sein. Es ist großartig, ein Teil von all dem hier zu sein.« Hagen machte eine weite Geste, die das ganze Heerlager einschloss. »König Gunder hat große Pläne.«
»Ja, er hat mir davon erzählt. Wo finde ich ihn? Ist er in seinem Zelt?« Helme stieg vom Pferd, übergab die Zügel einem seiner Männer und nahm die Satteltasche mit der kostbaren Schrift an sich. »Wartet bei den Zelten des Grafen von Weslet auf mich, Hark.« Der Freund nickte, und Hagen antwortete auf die vorherigen Fragen:
»Soweit ich weiß, müsste er dort sein. Ich bring´ dich hin. Aber nun sag doch: Wie geht es zu Hause? Seitdem deine Frau in Weslet war, habe ich nichts mehr aus Draepon gehört.«
»Es geht alles seinen Gang, so wie immer. Bis auf eins: Isabell erwartet ein Kind.« Helme lächelte, als Hagen überschwänglich gratulierte. Diese Neuigkeit war auch für ihn selber immer noch sensationell. Doch dann sagte er, wieder ernst werdend: »Du könntest mal zu uns herauf kommen. Aber du hast ja nie Zeit dafür, musst jeden Tag üben, immer auf der Suche nach einer neuen Herausforderung.«
Hagen lachte ohne eine Spur von schlechtem Gewissen.
»Du kennst mich doch, Bruder. Lass mir meinen Ehrgeiz. Du brauchst mich da oben in den Bergen nicht, und es muss schließlich auch Leute geben, die sich um die Kampfkunst bemühen, sie lernen und später weitergeben. So etwas kann man nicht aus Büchern lernen, nur von einem Meister. Und Weslets Schwertkampfmeister Hamassi ist ein She-Bashi, der beste Lehrer, auf den ich im Umkreis vieler Tagesreisen hoffen kann.«
»Ja, ja, das hast du schon allzu oft gesagt. Ich dachte nur, dass du inzwischen genug gelernt hättest, um endlich wieder nach Hause zu kommen. Du gehörst nicht in die niederen Täler und noch weniger ins Flachland.«
»Ich weiß nicht, ob man jemals von sich behaupten kann, genug gelernt zu haben.« Hagen sah lächelnd in Helmes verschlossenes Gesicht. »Aber ich muss zugeben, dass mir die Berge fehlen. Wenn das hier vorbei ist, komm ich euch ganz bestimmt besuchen, dich, Mutter, Isabell, den alten Nermaal … Schade übrigens, dass der nicht hier ist. Er könnte uns sehr helfen. Die Drachen der neuen Armee-Einheit begreifen einfach nicht, was man von ihnen will. Und dabei könnte Nermaal es ihnen im Handumdrehen erklären. Kannst du ihn nicht herkommen lassen?«

Helme blieb stehen und versuchte seinen Ärger zu beherrschen. »Das werde ich garantiert nicht tun. Nermaal ist auf Draepon unentbehrlich. Hast du überhaupt eine Ahnung, was da draußen im Land vor sich geht? Es gibt kaum noch Drachen in den Burgen. Die sind fast alle hier. Überall macht sich Gesindel breit, stiehlt, raubt, schändet, mordet. Es hat schon viel zu viele Tote gegeben. Die Flüchtlinge ziehen nicht mehr nur durch. Die bleiben und nisten sich ein, da, wo schon Drachstaader kaum satt wurden. Und wenn sie ihren Lebensunterhalt nicht auf ehrliche Weise bestreiten können, beginnen sie zu stehlen. Nicht mehr lange, und sie dringen in die ersten Burgen ein, denn die Männer und Drachen, die das Land beschützen sollten, treiben sich hier herum und spielen Krieg.«
»Jetzt übertreibst du aber!«
»Mit keinem Wort. Geh raus hier aus deiner edlen Kriegerrunde, Hagen. Ich hab dir nicht beigebracht, dich vom einfachen Volk fernzuhalten. Sieh dich um und bilde dir deine eigene Meinung. Ich bin gegen König Gunders Pläne, und deshalb werde ich auch nicht hierbleiben, um sie zu unterstützen. Drachstaad geht vor die Hunde, aber zumindest Draepon werde ich davor bewahren.«
Betroffen von Helmes heftigen Worten ging Hagen schweigend mit gesenktem Kopf neben ihm her. »Ich bin davon überzeugt, dass König Gunder auf seine Weise genau das Gleiche versucht wie du«, erklärte er schließlich, als sie am Ziel angekommen waren. »Seine Ideen klingen für mich überzeugend. Willst du nicht noch einmal in Ruhe darüber nachdenken?«
»Seit Wochen denke ich über kaum etwas anderes nach. Und ich habe das Gefühl, dass ich der Einzige bin, der das in Ruhe tut. Alle anderen wirken wie berauscht.« Graf Helme seufzte, reckte aber entschlossen seine Schultern. »Nun, wir werden diese Fragen jetzt nicht abschließend bereden können. Ich bin hier, weil Gunder eine Schrift aus Draepons Archiv einsehen will. Sicher können wir später noch miteinander sprechen, ehe ich wieder aufbreche.«
»Ja. Natürlich.« Hagen umarmte seinen älteren Bruder und trat danach zwei Schritte zurück. »Ich bin trotz deiner ablehnenden Haltung froh, dich zu sehen.«
Helme betrachtete ihn prüfend, nickte knapp und wandte sich der Leibwache vor dem königlichen Zelt zu.